Blog: Bequem bleiben oder nicht - eine Entscheidungshilfe


Rund ein Monat ist seit meinem letzten Newsletter vergangen und es scheint sich herauszukristallisieren, dass Corona und unser Umgang damit das Leben der meisten doch sehr verändern wird. Der Virus und die Folgen stellt Werte in Frage, wirkt in vielen Branchen wie ein Zeitraffer und legt Versäumnisse in Unternehmen und in der Gesellschaft gnadenlos offen, und der Virus kennt dabei keine Moral, geht nicht auf unsere gesellschaftlichen Annahmen von Gerechtigkeit oder Menschlichkeit ein, er will schließlich einfach überleben und sich vermehren.

Der Virus und unser Umgang damit zeigt uns, wo wir verletzlich sind, finanziell, wirtschaftlich, persönlich, psychisch und lässt uns oft auch ohnmächtig zurück. Wir erleben uns als Opfer von etwas, was wir nicht steuern können, warten auf immer neue Lagen und sind oft so gar nicht souverän. Souverän im Sine von sicher und überlegen im Auftreten und Handeln.

Sicher wissen wir, dass die Folgen gravierend sein werden: Bund und Länder haben in fünf Wochen doppelt so viel Geld für Coronahilfen aller Art ausgegeben, gestundet und zugesagt, als der deutsche Staatshaushalt 2020 an Ausgaben im Haushaltsplan stehen hat.

Von zwanzig Jahren gehen mittlerweile einige Experten aus, die es dauern wird, um die wirtschaftlichen Folgen wieder wettzumachen - andere sprechen nur von zwei Jahren. So genau weiß das gerade niemand, es weiß ja auch niemand, ob es nicht einen zweiten Lockdown geben wird. Sechs Prozent Wirtschaftsminus oder dreißig Prozent? Ich habe noch nie erlebt, dass einem weiten Kreis zugänglich gemachte wissenschaftliche Sichtweisen und Prognosen soweit auseinandergedriftet sind wie derzeit, und zwar nicht nur die der Virologen, sondern auch die der Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen etc.. Die gesundheitlichen Nebenwirkungen des Lockdowns in der Bevölkerung sind zudem derzeit völlig unübersichtlich.

Da ich weder Wirtschaftswissenschaftler noch Virologe bin, sondern mich mit Führung, Psychologie, Philosophie, Strategie und Geschichte beschäftige, möchte ich den Blick zurück auf uns richten, genauer auf jede und jeden einzelnen von uns:

Das alles ist nämlich kein Grund zum Verzweifeln. Weil das Gehirn von uns Menschen ganz hervorragend auf solche Situationen eingehen kann, es ist sogar dafür geschaffen, sonst gäbe es uns Menschen schon lange nicht mehr.

Nur haben das die meisten vergessen in einer Welt, in der wir uns jahrzehntelang ganz komfortabel eingerichtet haben, mit festen Einnahmen, festen Ausgaben, Versicherungen und in Verträgen festgeschriebenen Erwartungen, die wir haben durften und größtenteils glauben, Sie weiter haben zu dürfen. Und das übrigens vom Angestellten, der sich selbst als Befehlsempfänger erlebt, über den Rentner, das Familienmitglied bis zum Konzernchef, Firmeninhaber oder Politiker.

Das Motiv für alle diese Sicherheitsvorkehrungen ist Bequemlichkeit. Ein menschliches Prinzip, das unabdingbar Teil von uns ist, weil es uns evolutionär gedient hat. Ich erkläre das Prinzip wissenschaftlich sicherlich völlig unzureichend, aber hoffentlich verständlich, quasi als Denkmodell, um sich selbst gerade besser zu verstehen: Das Gehirn verbraucht beim Denken sehr viel Energie und der menschliche Organismus ist auf Energiesparen und Energie horten angelegt, also ist alles, was uns dient, weniger denken zu müssen, erst einmal gut. weil es eben Energie spart.

Wir haben uns also in den fetten Jahren an den Energiesparmodus gewöhnt. Genauer gesagt: das Gehirn, das ja sehr anpassungsfähig ist, spezialisiert sich in vielen fetten Jahren darauf, es sich bequem zu machen und richtet sich mit all diesen festen Einkommen, Ausgaben und Gewohnheiten, kurz: - mit unserem persönlichen Wohlstandssystem - ein. Es wird nicht mehr viel hinterfragen, vieles Denken den anderen überlassen und uns vor allem bei einem wohlwollend begleiten: der unreflektierten Bedürfnisbefriedigung.

Und jetzt plötzlich hat sich etwas eingeschlichen oder es kommt gar wie ein Hammerschlag: Die Angst davor, dass sich etwas ändern wird an diesem persönlichen Wohlstandssystem.

Was macht das Gehirn? Es wird erst einmal festhalten wollen an der bisherigen Sichtweise, weil es will ja, dass wir im Bequemlichkeitsmodus, im Energiesparmodus bleiben dürfen. In dieser Phase geben wir gerne anderen die Schuld an der Misere, glauben ganz tapfer daran, dass schon wieder alles so wird wie vorher nach dem Motto: „Ich bin Optimist“. Das funktioniert, wenn die anderen sich dann bewegen und endlich tun, was wir erwarten und ihr Verhalten ändern oder die Annahme stimmt, dass alles wieder so wird wie vorher.

Und wenn nicht, wovon in diesem Fall eher auszugehen ist?

Wenn die Chefs nicht alle Arbeitsplätze erhalten können, die Politik den Lockdown nicht genau so gestaltet, wie wir das in unserer Branche gerne hätten, wenn die momentan kurzfristigen Geschenke der Politik an alle (erhöhtes Kurzarbeitergeld, Gutscheine, Krisenzuschuss, KfW-Darlehen) langfristig gravierende Folgen haben werden für uns? Wenn die Lieferkette unterbrochen bleibt oder ich doch nicht ohne weitgehende digitale Kompetenzen in die Zukunft komme? Wenn mein Job weg ist? Mein Unternehmen sich nicht mehr trägt?

Dann ist ein anderer Modus gefragt. Dann müssen wir im wahrsten Sinne des Wortes aufwachen und uns der ganzen Wahrheit stellen.

Vorne in unserem Gehirn ist der sogenannte frontopolare präfrontale Cortex. Das ist der Teil des Gehirns, der nach allem, was man heute weiß, Ressourcen und Zeit des Gehirns organisiert. Und der will jetzt gefordert werden.

Hier werden die Listen der zu erledigenden Aufgaben geführt, komplexe Probleme gelöst, geplant und Prioritäten gesetzt. Der gesamte präfrontale Cortex bezieht dabei den individuellen emotionalen Zustand mit ein, das heißt er verbindet unsere emotionalen Welten mit unserer sonstigen Wahrnehmung und ist in der Lage daraus Zukunft zu gestalten, zusammen mit dem gesamten Rest des Gehirns.

Das versetzt uns – besser als jeden anderen bekannten Organismus - in die außergewöhnliche Lage, unsere Zukunft selbst zu bestimmen, wenn wir der Wahrheit, unserer eigenen Wahrheit wirklich in die Augen sehen.

Nun können wir warten, bis uns die Realität einholt, wir können warten, bis unser Geschäftsmodell wirklich an der Wand ist, bis der Job weg ist, bis der Druck so groß ist, dass ein „weiterwiebisher“ unmöglich ist. Dazu rate ich nicht, auch wenn es im Sinne der Zeilen oben die erst einmal bequemste Variante ist. Weil der Preis dafür zu hoch ist: Falscher Optimismus jetzt führt eventuell zu einem ungleich härteren vielleicht sogar traumatischen Aufprall.

Und unser Gehirn, genauer eben dieser präfrontale Cortex kann etwas anderes, wenn er gefordert wird. Er kann neue Prioritäten setzen, Ressourcen neu planen, neue Aufgaben definieren. Kurz: Er ist der Change Manager in uns. Ich will ein paar Startfragen stellen...

  1. Zukunftscheck: Schauen Sie sich Ihre persönliche und berufliche Situation gerade an. Wovon gehen Sie nach allem aus, was Sie gerade mitbekommen und wahrnehmen, bereits geplant oder entschieden haben: Wie würde diese Situation in einem Jahr, also am 26. April 2021 aussehen, wenn Sie nichts ändern?
     
  2. Wie gut fühlt sich das an auf einer Skala zwischen 0 (= besch…) und 10 (sehr sehr gut)?
     
  3. So zwischen 7 und 10, vielleicht auch schon mit 6 (bescheidener Ansatz, der aber nicht falsch sein muss) ist ja vielleicht alles in Ordnung, also nur für die weiter, die so nicht zufrieden sind:

    Welche Prioritäten in meinem Leben müsste ich ändern, welche Werte müssten jetzt mehr werden in meinem Leben?

    Ich nenne einmal ein paar mögliche Beispiele - diese Liste ist sicherlich unvollständig und muss auch für Sie nicht passen. Und ich würde mich nicht nur freuen, wenn Sie sie für sich ganz persönlich erweitern, sondern wenn Sie mir auch Ihr Feedback schicken würden, was Sie glauben, was noch dienen kann - wichtig ist, dass Sie immer überlegen, auf was sich diese neue Priorität, der Wert, bezieht, also beispielsweise:

    Unabhängigkeit von meiner Branche und den Regeln, die sie mir auferlegt
    Disziplin in Bezug auf eigenständiges Lernen
    Entschlossenheit bei der Jobsuche
    Klarheit gegenüber meinen Stärken
    Selbständigkeit im Denken
    Emanzipation von meiner Familie
    Eigenverantwortung im beruflichen Zusammenhang
    Austausch mit Gleichgesinnten oder mit Andersdenkenden
    Lust auf Neues
    Reduktion aufs Wesentliche
    Mehr Engagement in meinem bisherigen Umfeld
    Freude an dem, was ich am besten kann
     
  4. Nehmen Sie sich Zeit, vielleicht eine Tasse Kaffee oder eine kleine Spaziergangsauszeit und stellen Sie sich vor, was Sie mit dieser neuen Ausrichtung verändern können und wie sich Ihr Leben dann vielleicht anfühlen würde am 26. April 2021. Wenn es sich so besser anfühlt, lohnt es sich vielleicht, die neue Ausrichtung zu leben...


Danke fürs Dabeibleiben, ich wünsche Ihnen eine gesunde Zeit und eine gute, stimmige Ausrichtung für alles, was kommt. Bleiben Sie mir gewogen.

Ihr Anatol Hennig, 26. April 2020


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